Christoph Richter

Einige Gedanken zur Sammlung meiner Schriften

Ein Lebensweg, so scheint mir, führt bisweilen über Anhöhen, die zum Anhalten und Verschnaufen einladen, zu Rückblick und zu zögerlichem oder neugierigem Blick nach vorn.

Manche Rück- und Aussichtspunkte sind vielen Lebenswegen gemeinsam – das Ende der Schulzeit, jenes der Berufsausbildung, der Beginn von Lebensgemeinschaften oder der Übergang zu einer anderen, ein Berufs- oder Ortswechsel …
Andere Pässe markieren den Lebensweg individuell. Sie werden als längst ersehnt oder mit Wehmut erreicht und überquert, erfüllen mit Hoffnung oder machen rat- bis mutlos. Als ein Paß von besonderer Nachdrücklichkeit hat sich für mich der Abschied von der langen Zeit des geregelten Hochschuldienstes erwiesen. Von seinem Scheitel aus richte ich den Blick zurück auf die durchschrittenen und immer rastlos durcheilten Jahrzehnte – mit ein wenig Trauer, stolz, zufrieden, auch erleichtert.
Der Blick nach vorn, ins Dunkel führend, was die Art, die Richtung und die Länge des weiteren Weges betrifft, ist unsicher: mal wird er von dem beflügelt, was rückwärts aufgebaut wurde und sich nun wiederfindet und zu überblicken ist; mal macht er ratlos, ist von Müdigkeit gezeichnet und vom Gefühl, es sei nun genug über den Beruf nachgedacht.

Da ist die Bibliographie, von Rebekka Hüttmann sorgfältig viele Details erkundend zusammengestellt – eine unschätzbare Hilfe für die Rast auf jener Anhöhe mit dem zweifelhaften Namen ‚Emeritage‘. Anstelle der mir gemäßen Sammlung loser und überall verstreuter fliegender Blätter kann ich eine ansehnliche Reihe von Ordnern in die neue Wohnung stellen, welche in chronologischer Folge (fast) alles enthält, was Veröffentlichung genannt werden kann.
Zum Glück gibt es noch weiße Flecken – Unterrichtsentwürfe, Editorials, musikalische Analysen und Interpretationen, Seminarpapiere und Rezensionen –, die Widerspruch anmelden gegenüber der Vorstellung, die Berufsjahre seien nunmehr zwischen Pappendeckeln sicher untergebracht.

Bei der Durchsicht der Bibliographie fallen mir einige Leitlinien und -interessen auf:

  • Die Versuche und Beiträge theoretischer Ausrichtung suchen zumeist Vergewisserung bei anderen als musikbezogenen oder pädagogischen Disziplinen, vor allem bei der philosophischen Hermeneutik, der philosophischen Anthropologie, der Spieltheorie, bei Interpretationstheorien, der Ästhetik und Aisthesis-Theorie, der Literaturtheorie und anderen Nachbarfächern. Sie dienen als Fundament des didaktischen Fragens.
  • Immer habe ich mich bemüht und versucht, aus theoretischen Überlegungen praktischen Nutzen und Möglichkeiten der Anwendung zu finden – wie auch umgekehrt, unterrichtspraktische Überlegungen auf die Basis theoretischer Gedanken zu stellen.
  • Wichtig war mir auch, die allgemeinen und didaktischen Überlegungen auf dem sicheren Boden musikalischer Erscheinungen, Sachverhalten und Untersuchungen zu gewinnen.

Ich entdecke in meinen Schreibversuchen einen dreißigjährigen Weg, der mehr mit theoretischen Überlegungen zum Musikunterricht und zur Musikpädagogik beginnt, sich dann aber immer stärker um Anwendungen für Unterricht und in der Musik bemüht. Es folgt eine Zeit des Interesses für pädagogische Fragen und Anforderungen der Kirchenmusik, angeregt durch Überlegungen zu gemeinsamen Studiengängen von Kirchen- und Schulmusik an der Lübecker Musikhochschule.
Die Ausarbeitungen der hermeneutischen Grundlagen für die Interpretation von Musik, zu der Karl Heinrich Ehrenforth mich anregte, führen stets in den versuchten Zusammenhang von „Theorie und Praxis“.
Seit Gründung der Zeitschrift „Üben und Musizieren“ und im Zusammenhang mit der Herausgebertätigkeit des „Handbuch(s) der Instrumentalpädagogik“ verstärkt sich die Zuwendung zu instrumentalpädagogischen Fragen.
Schließlich bildete sich ein bis heute waches Interesse an hochschuldidaktischen und hochschulpolitischen Themen heraus.
Wenn der weitere Weg es erlaubt, könnten herab vom erreichten Paß drei Pfade führen, die mich neugierig machen und mich dazu bewegen, das Bisherige zu vertiefen, genauer zu begründen und zu erweitern:

  • der breitere – als der schulmusikalische – Pfad einer allgemeinen Lehre der Musikvermittlung,
  • der Pfad einer theoretisch und gesellschaftlichen begründeten sowie auf Anwendung tendierenden Hochschulreform,
  • und schließlich ein Ausbau der unübersichtlichen Straße der Musikdidaktik seit den siebziger Jahren, einer Straße, die zusammenführt, was als angeblicher „Pluralismus der Konzeptionen“ ein ebenso beliebtes wie trügerisches Bild der neueren Geschichte der Musikpädagogik zeichnet.